Literatur

Flynn

Mein Cousin dritten Grades heißt wie ich. Gestern habe ich ihn kennengelernt. Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass es ihn gibt. Er ist so alt wie ich. Wir haben dieselben Ururgroßeltern. Der Cousin unserer Großväter, der Stammforschung betreibt, gab uns die Nummer des anderen weiter. Wir trafen uns in einer Stadt, die zwischen meiner Geburtsstadt und seinem jetzigen Wohnort liegt. Als Flynn zur Bahnhofshalle kam, erkannte ich ihn und dass er mich erkannte, bevor ich das Muster des T-Shirts sah, das er mir beschrieben hatte. Wir hatten das gleiche Leuchten an uns, die gleiche Freude, einander kennenzulernen.
Flynn bedeutet „Sohn des Rothaarigen“. Meine Mutter hat rotes Haar, aber wir beide, Flynn und ich, sind dunkelblond, wie mein Urgroßvater, meine Großtante, mein Vater. Wir gingen zur Residenz und tauschten uns darüber aus, was wir studieren. Flynn hatte ursprünglich dasselbe vorgehabt wie ich und ich lerne gerne fremde Sprachen wie er.
Zuerst waren wir beide nervös, aber das Eis brach schnell, als wir erst durch die königlichen Räumlichkeiten und dann durch den Hofgarten wandelten. Wir entdeckten Ähnlichkeiten, wie das Ausweichen von Trubel und Mittelpunkten, die Bescheidenheit, die Großzügigkeit, die Leidenschaft für Geschichtliches, das Stellen der eigenen unter die Bedürfnisse anderer und die Flucht vor Kameras und Geburtstagen zwischen seiner und meiner Familie. Flynn gab mir Tipps bezüglich meiner Migräne mit Aura, die er und seine Verwandten, wie einige meiner, ebenfalls geerbt hatten. Er sprach mit dem Dialekt unserer gemeinsamen Vorfahren und in seinen Gesichtszügen meinte ich mir bekannte Züge zu erkennen. Ich war verblüfft, wie ähnlich seine Art meiner war.
Wir erkundeten die Stadt und gingen etwas essen. Wir hatten beide Appetit auf Falafel, Hummus und Salat. Mein Zug hatte zwei Stunden Verspätung gehabt, auf dem Weg riss Flynns (wie meiner mit Notizbüchern und Büchern) vollgepackter Rucksack, sodass er ihn wie ein Lamm tragen musste, und auf einer Bank kackte uns ein Vogel verdaute Beeren auf die T-Shirts und Arme, aber es war ein schöner Tag, mit Abschluss im Sonnenuntergang. Es kam mir vor, als würde ich mit Flynn ein Stück von mir selbst sehen, auch wenn ich (abgesehen von den 99,9%, die wir alle gemeinsam haben) nur einen verschwindend geringen Bruchteil geteilter Gene mit ihm aufweise. Unsere Ururgroßeltern müssen Wellen geschlagen haben, die bis zu uns reichen.
Woher kommt der Drang, diese Wellen zu ergründen? Von der Freude, jemanden kennenzulernen, der mir ähnlich ist? Aus dem Bedürfnis nach Familie? Der Faszination an mir selbst? Dem Wunsch nach Verbrüderung?
Und wenn es das ist und wir 99,9% unseres Erbguts miteinander teilen – kann ich dann nicht jedem so begegnen wie Flynn, einem weit entfernten, aber mir ziemlich ähnlichen Verwandten?

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