Literatur

Und dann ist die Sache erledigt

Ein Text aus meiner Abizeit, dem Frühjahr vor fünf Jahren

Wenn er lacht und ich ihn ansehe, kann ich ihm nicht lange in die Augen sehen. Mein Gesicht muss dann automatisch auch lachen und ich wende den Blick ab, doch zu spät; ich habe mich schon preisgegeben.

Ich drehe die Musik auf, so leise, dass ich die Gitarre, die Trommeln und die Stimme gerade noch höre. Starte den Tag mit einem Brownie und guter Musik – eine der vielen Weisheiten, die ich von ihr gelernt und nicht oft genug gelebt habe.

Eben habe ich geträumt. Meine Zunge fühlt sich pelzig an, ansonsten geht es mir körperlich überraschend gut. Die Sonne blendet durch den Spalt, den der Rollladen frei lässt, ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt, an einer der Zigaretten, die sie mir gegeben hat, nur kauend; vor mir liegen das Buch, das sie mir geschenkt hat, und Ostereierpapier, das ich zu Konfetti verarbeite. Die CD, die ich jetzt zum ersten Mal höre, spielt mein schlechtes Gewissen runter. Ich habe mir vier von der Sorte gekauft – ältere, die mir nichts sagen, und Nothing has changed. von David Bowie.

Neulich, am Abend vor meiner ersten Abiprüfung, habe ich ihre Briefe zusammengesucht und der Reihenfolge nach noch einmal gelesen. „Weißt du, was mich tröstet, wenn ich am Ende bin? Musik. Ich suche mir Lieder mit einem schönem Text, mit richtigem Inhalt und spiele sie rauf und runter“, hat sie auf Diddlbriefpapier geschrieben, als sie dreizehn war, und ich muss jetzt gerade daran denken.
Wie wir am Anfang waren. Wie wir alles geteilt haben; wie wir wie Großmütter im Park Runden gedreht und geredet haben; wie wir mit unseren Inlinern durch die Stadt gefahren sind, am Fluss Eis gegessen haben und unser Zuhause waren.

Damals hatte er noch schulterlange Haare und ist uns auf die Nerven gefallen. Er fragte sie, ob sie mit ihm gehen wolle, aber sie dachte, später vielleicht, wenn wir älter sind und er reifer ist, das hat Zeit, und sagte nein.

Sie hat ihr Profilbild und ihren Status geändert. Das Bild zeigt einen der schönsten Sonnenuntergänge meines Lebens, die Sonne bricht aus den Wolken hervor wie ein zu großer Stern, der über den Wolkenkratzern verglüht, unten laufen die Menschen im Licht wie Schatten neben dem Fluss, eine Person beugt sich vor, als wollte sie sich darin spiegeln.
Sie hat das Foto aufgenommen, als wir auf die Brücke liefen, um uns zu orientieren – an dem Tag hat sie einige sehr schöne Fotos gemacht, auch in der Nacht, aber das Foto, das den Sonnenuntergang zeigt, ist das schönste.

Ich habe ihr gesagt, ihn so lange zu kennen, ihn immer noch mit langen Haaren vor mir zu sehen, dass ich ihn einfach nicht anziehend finden könnte.
„Es ist lustig, dabei zuzusehen, wie sich alle immer in ihn verlieben“, habe ich gesagt und es sofort bereut, noch bevor ich sie wieder ansah.
Sah, wie traurig sie guckte, als sie sagte, wie seltsam es sei, ihn sieben Jahre lang täglich gesehen und unheimlich gemocht zu haben und ihn dann von einem Tag auf den anderen einfach nicht wieder zu sehen.

„look what happens with a day like that it lights the whole sky”

Einfach nie wieder. Was dann bleibt, sind das Video, auf dem sie ihr Männerballett für den Abiball proben, und ein paar Fotos, auf denen er längst nicht so schön ist wie in Wirklichkeit. Sie hat Recht – er hat eine ungeheuer große Ausstrahlung. Und so viele Muskeln – das hat sie ganz verliebt gesagt, bevor sie mir das Video gezeigt hat.

Zweimal bat sie mich, ihr Handy aufzubewahren, nachdem sie ihm geschrieben hatte. Vorgestern hat sie mir ihr Notizbuch geschenkt. Als ich die Liebesgedichte auf den hinteren Seiten las, überkam mich das Bedürfnis, mich zu betrinken, das ich schon oft verdrängt habe. Es ist nicht der richtige Weg, selbst nicht, wenn du einmal feiern willst, einmal jung sein willst und so richtig besoffen sein willst wie alle anderen, und schon gar nicht als Trauerfeier.

Es war nur ein Traum. Eine Umarmung von hinten, die sich sehr echt anfühlte. Plötzlich stand er hinter einer Theke, ich davor, und sagte: „Gut, dann komme ich noch einmal zu dir nach Hause. Und dann ist die Sache erledigt.“

Und dann ist die Sache erledigt. Mit diesem Satz bin ich aufgewacht. Er war nie bei mir zu Hause und wird es nie sein.
Ich stehe vom Schreibtisch auf, ziehe den Schlafanzug aus und das ungewaschene David Bowie T-Shirt über, das sie für uns beide gekauft hat. In New York in den Sommerferien zur Oberstufe, die noch nah sind, danach ist so viel passiert.
Ich hole das Telefon aus dem Flur und wähle ihren Namen am Schreibtisch.
Während des Tutens erinnere ich mich, wie er sie gefragt hat, was das überhaupt für ein Buch sei. Sie: Mein Zitatebuch. Sie hatte aufgeschrieben, was er kurz zuvor gesagt hatte: Kant ist irgendwie doof. Er, lachend: Damit du irgendwann nostalgisch werden kannst, oder was?
„Hey.“
„Habe ich dich geweckt?“
„Es ist elf Uhr.“
„Können wir reden?“
Aber ich kann es nicht.

Für vier Freund*innen und zum Andenken an Einen

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